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Das Leben noch schöner
Was bedeutet jedem*r Einzelnen von uns die Soziokultur in NRW?

Von Miltiadis Oulios

Brennende Holzscheite vor dem Haupteingang des Ringlokschuppen in Mülheim. Ascheflocken schweben durch die kalte Januarluft. Die Umstehenden schlürfen Tee und quatschen. Manche krempeln die Hosenbeine hoch und steigen in mit heißem Wasser befüllte Zinkeimer, die um die Feuerstelle einen Kreis bilden. Sie genießen das wärmende Fußbad. Und sie genießen dabei sich selbst als Teil einer Performance. Das wird heute noch häufiger vorkommen. Etwa 200 Menschen strömen ins Foyer – zur Versammlung der Wünsche, die die Soziokultur-Macher*innen in Nordrhein-Westfalen als ihren Zukunftskongress verstehen. An der Theke werden Kaffeetassen als Andenken verteilt, auf einer steht in gelber Schrift: „Dass die Leute nicht denken, das ist Hochkultur!“ Die nehme ich mit.

Die Sache mit dem Fußbad ist ein Sinnbild der heutigen Zusammenkunft. Sowohl Performance als auch Gelegenheit zum Austausch. Nach der Pandemie-Zeit, die für alle, die in der Soziokultur aktiv sind, prekär war. Die Außentemperaturen an diesem Tag sind eisig. Abdo Issa kniet neben einer Gießkanne, aus der Dampf steigt. Er knipst ein Foto mit seinem Smartphone. Selbst traut er sich noch nicht, die Schuhe auszuziehen.

Abdo hat bis vor Kurzem im kitev (Kultur im Turm e. V.) in Oberhausen gearbeitet. „Wir sind die, die mitten im Bahnhof sitzen“, schmunzelt er, „unser Büro und die Seminarräume sind oben im Turm.“ Wenn einer zu spät zum Sprachkurs komme, müsse immer jemand runter laufen. „Aber ihr macht doch auch Kultur?“, will ich wissen. Sie veranstalten im Rahmen der „Freien Universität“ zum Beispiel mehrsprachige Vorträge. Er hat auch schon mehrere gehalten, zu Kommunikation, zu Religion in der Schule, „aber nicht so professionell“, bemerkt Abdo bescheiden. Wenn jemand ein Thema hat, das ihm wichtig sei und das er teilen möchte, dann organisieren sie das, inklusive Übersetzung.

„Das ist doch hoch professionell“, denke ich mir. Seine Bescheidenheit spricht für sich. In der Soziokultur ersetzt Herzblut oft den Geldbeutel. Nur wird Herz in unserer Gesellschaft oft nicht so viel Wert beigemessen wie Moneten.

An diesem Tag möchten alle ihre Bescheidenheit ablegen. „Warum wird etwas, das nachweislich so wichtig ist für die Gesellschaft, nicht endlich vernünftig finanziert?“, tönt die Stimme von Sibylle Peters aus den Lautsprechern durch den Theatersaal. Das Publikum jubelt. Sie hat als Performance-Künstlerin das Format der heutigen Versammlung entworfen. Gleich zum Einstieg geht es um die Penunzen. Wie viel Geld braucht die Soziokultur für den Generationenwechsel? Wie viel für die klimafreundliche Sanierung ihrer Kulturzentren? Wie viel, um nach Corona in die Puschen zu kommen? Die Soziokultur-Macher*innen aus dem ganzen Bundesland sitzen auf den Zuschauerrängen und rufen Beträge Richtung Bühne. „Man habe auf Grundlage vieler Vorab-Interviews mit Aktiven der Soziokultur ausgerechnet“, fasst Esther Pilkington aus dem künstlerischen Versammlungsteam verschmitzt zusammen, „welche Summe nötig ist: 711 Millionen und ein paar Zerquetschte!“ Das Publikum johlt. Am Ende des Tages werden sie sich auf 28 Millionen Euro einigen, die sie vom Kulturministerium in Düsseldorf fordern.

Soziokultur? Was ist das?

Ich gestehe, ich war in meinem Leben nur eine Handvoll Male in der hoch subventionierten Oper. In soziokulturellen Zentren gehe ich mein Leben lang ein und aus. Ich habe dort geknutscht, auf Partys getanzt, bin auf Konzerten gedived, habe Lesungen, Vorträge und allerlei Veranstaltungen besucht. Und ich habe in der Soziokultur die Seiten gewechselt: selbst Konzerte veranstaltet, Feste organisiert, Musik gespielt, Schreibwerkstätten geleitet, Texte gelesen, Theatertruppen zusammen getrommelt. Dass das alles unter dem Begriff „Soziokultur“ firmiert, war mir lange nicht bewusst und auch egal. Ich wette, ich bin nicht der einzige, dem es so geht. Viele Menschen kennen die soziokulturellen Zentren in ihrer Stadt. Aber stellen wir uns doch mal in die Fußgängerzone und befragen Passanten, ob sie wissen, was eine Oper ist und was Soziokultur.

„Partizipativ zu arbeiten, Kunst und Gesellschaft auf vielen Ebenen zu verbinden“ und so weiter und so fort. Das Manifest, das an diesem 26. Januar 2023 kollektiv bearbeitet und beschlossen wird, beginnt im ersten Entwurf mit einem langen Bandwurmsatz, der nach mehreren Infinitivkonstruktionen unterstreicht: „All das macht Soziokultur aus.“ Er wird vorgelesen. Alle stehen auf der Bühne und lesen auf der Leinwand mit. Und er wird an Ort und Stelle geändert. „Wir arbeiten partizipativ.“ Punkt! „Wir verbinden Kunst und Gesellschaft auf vielen Ebenen.“ Punkt! Die größere Sichtbarkeit, die sich die Soziokultur in Nordrhein-Westfalen wünscht, beginnt damit, sich selbst klarer zu sehen. Und häufiger von sich in der ersten Person Plural zu sprechen.

Versammlungsleiterin Sibylle Peters und ihr Team hatten das Manifest im Vorfeld schon vorbereitet. Zusammengestellt aus der Essenz der Vorab-Interviews mit 45 Akteur*innen aus verschiedenen soziokulturellen Zentren im Land. Dieser Text wird dann live (!) auf der Bühne im Ringlokschuppen besprochen, korrigiert, verbessert und ausgedruckt. Kaum sind die Blätter aus dem Druckerschacht gefallen, werden sie der Staatssekretärin aus dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, Gonca Türkeli-Dehnert, überreicht, die zum Abschluss der Versammlung auf die Bühne kommt. Das ist einmalig.

Aber stimmt eigentlich der Befund, dass die Soziokultur so wichtig ist? Da empfehle ich ein Selbstexperiment. Es wäre nicht ganz klimafreundlich, weil mit einer Flugreise nach Griechenland verbunden. Vielleicht genügt es ja, stattdessen die Welt mit meinem griechischen Blick zu betrachten. Wenn ich in Hellas bin, fällt mir immer wieder auf: Jedes x-beliebige Kaff in Griechenland ist lebendiger als so manche deutsche Mittel- und Kleinstadt. Und zwar auch in der Provinz, abseits der Touristenzentren. Kein Witz. In einem griechischen Dorf mit, sagen wir mal, 2000 Einwohnern, ist auf der Straße mehr los, gibt es vergleichsweise mehr Gelegenheiten, sich nett irgendwo hinzusetzen, das eine oder andere Fest mitzunehmen, als in einer deutschen Kleinstadt oder Mittelstadt mit zehn- oder hundertmal so vielen Einwohner*innen. Sind Sie schon mal sonntags bei uns in good old germany durch … gefahren? Dann wissen Sie, was ich meine. So viele tote Hunde kann man gar nicht begraben.

Hier kommt die Soziokultur ins Spiel. „Soziokultur ist das Leben in schöner“, steht im Manifest. Die Leute, die Kulturzentren betreiben, die tagein, tagaus rödeln, um sie mit Leben zu füllen, die Kunst- und Kulturprojekte zum Mitmachen durch- und dabei Menschen zueinanderführen, bringen Leben in ihre Städte und Stadtteile. Sie sorgen dafür, dass was los, jenseits von Shopping-Malls und Kommerzkultur. Dass das Leben lebenswerter wird. Das können wir gar nicht hoch genug schätzen. Es ist uns als Steuerzahler*innen genau 0,9 Prozent des Kulturhaushalts in NRW wert.

Bye-bye Burnout?

Als die Moderator*innen Richtung Zuschauerränge fragen, wer sich mehr Wertschätzung wünsche, stehen alle auf. Dann folgt die Aufforderung: „Alle mal aufstehen, die nicht müde sind.“ Die Hälfte bleibt sitzen. Sie lieben, was sie tun. Und sie könnten so viel mehr. Wenn da nicht die Selbstausbeutung um die Ecke lauern würde. Etwa die Hälfte der Zentren kann sich keine Vollzeitstellen und keine tarifliche Bezahlung leisten. Dabei habe die Soziokultur von Anfang an jene Form von Kulturarbeit vorgemacht, die sich jetzt alle gern auf die Fahnen schreiben: nämlich eine, die die Bevölkerung mit einbezieht. „It‘s payback time.“

Strukturförderung ist der sperrige Begriff, für den es den größten Applaus gibt und der in der ersten Version des Manifests glatt vergessen wurde. Sie wollen nicht mehr von Projektantrag zu Projektantrag hangeln. Zumal während der Corona-Pandemie die Einnahmen eingebrochen und damit auch die Reserven an Eigenmitteln geschrumpft sind, die bei Anträgen für die Förderung eines Kulturprojekts eingebracht werden müssen. Strukturförderung heißt: feste Stellen. „Wie sollen wir die Verantwortung an jüngere Kollegen übergeben“, fragt eine Teilnehmerin, „wenn es die Stelle, die wir übergeben möchten, gar nicht gibt?“

Wird es gelingen, ihre Forderungen durchzusetzen? So manch eine*r schwärmt von der gebündelten Energie an diesem Tag, die allen neuen Schwung und Optimismus einhauche.

Draußen hat mittlerweile auch Abdo die Hosenbeine hochgekrempelt und seine Füße ins warme Wasser getaucht. Die Fußbade-Station ist eine „räumlich-performative Intervention“, die sich Architekt Benjamin Foerster-Baldenius vom raumlaborberlin ausgedacht hat. Als etwas, das jedes Zentrum mit einfachen Mitteln selber machen kann, um unerwartete Begegnungen vor seinen Toren zu schaffen. „Auch diese Versammlung ist vor allem deswegen toll, weil wir uns hier austauschen können“, resümiert Abdo. „So ist es im Leben. Wir folgen einem Ziel, aber unterwegs passieren die eigentlich wichtigen Dinge.“

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Die Kosmopolis sind wir
Wie kann die Soziokultur (noch) kosmopolitischer werden?

Ich spreche gern von unserer kosmopolitischen Kultur in Deutschland. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich selbst daran zweifle. Doch jedes Mal, wenn ich in Unterhaltungen leicht provokativ diesen Begriff in die Runde werfe und an den Reaktionen ablese kann, dass er nicht nur Zuspruch, sondern auch Verunsicherung und Missverständnisse hervorruft, fühle ich mich bestärkt, daran festzuhalten. Selbst heute noch meinen viele die weltgewandten Mitglieder der besitzenden Klassen, wenn sie von Kosmopoliten sprechen. Ich meine jedoch unsere kosmopolitische Kultur von unten. Mag akademisch klingen. Ich finde aber, die Kosmopolis sind wir. Die Welt befindet sich dank der Migration direkt vor unserer Haustür. Die Migrationsgeschichte und die Geschichten der Einwanderer sind Teil unserer gemeinsamen deutschen Geschichte. Ihre Kultur und ihre künstlerischen Ausdrucksformen in all ihren Facetten sind nichts weniger als Teil unserer gemeinsamen Kultur in Deutschland.

Deswegen ist es auch nicht nötig, die neuesten Statistiken zu zitieren, dass mittlerweile jede*r Vierte in Deutschland einen Einwanderungshintergrund besitzt, um zu begründen, dass alle Kulturinstitutionen genauso kosmopolitisch sein müssen wie unsere Gesellschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass das selbst in der Soziokultur nicht immer gelingt. Kira Halfmeier, Kulturreferentin im Bollwerk 107 in Moers, ist da offen und ehrlich. „In Moers leben hauptsächlich alte, weiße Menschen“, sagt sie in einer Pause während der Versammlung der Wünsche im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr. „Und die jungen Menschen, die nicht biodeutsch sind, die halten sich leider nicht in Zentren auf, sondern auf der Straße“, erklärt Kira, „die müssen erst mal erfahren, dass wir existieren.“ „Aber warum sollten sie denn überhaupt in ein soziokulturelles Zentrum kommen?“, bohre ich nach. „Weil wir cool sind“, lacht Kira. Und ich lache zurück: „Vielleicht ist es ja auf der Straße cooler.“

Solche Gespräche höre ich oft in der ein oder anderen Form an diesem Tag. Dass auch die Soziokultur-Macher*innen ihre lieb gewordenen Pfade mal verlassen und ihr Programm so ausrichten müssen, wie es sich Leute wünschen, die ihnen nicht in allem gleichen. „Das heißt, weg von zum Beispiel Alt-Herren-Rock,“ sagt Kira, „und hin zu türkischem Psychedelic, Hip Hop und Party-Veranstaltungen.“ Vor allem hin zu neuen Leuten im Team. Denn auch im Bollwerk hat von 15 Menschen, die dort arbeiten, nur eine Frau eine Migrationsgeschichte. Ihr sei die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität sehr wohl bewusst. Sie versuchen jetzt gezielt, Projektleitungen an Menschen mit internationaler Biografie zu vergeben, betont Kira, die Kulturreferentin. Was den sozialen Background angeht, seien sie repräsentativer aufgestellt. „Der Großteil von uns kommt aus Verhältnissen, wo man weiß, wie es ist, wenig Geld zu haben.“

Herkunft und Klasse lassen sich nicht getrennt voneinander denken. Sie gehen aber auch nicht ineinander auf. „Am Ende sind es halt doch fast immer alte, weiße Männer, die in den Entscheidungspositionen sitzen“, erzählt mir eine Teilnehmerin, die hier anonym bleiben soll, von ihren Erfahrungen. „Und die halten auch inhaltlich ihren Finger drauf und ziehen ihren Stiefel durch. Ich hab das auch schon mal angesprochen. Aber das wird dann nur abgestritten. „Nee, das ist doch gar nicht so. Wir sind doch offen.“

Wer steigt ein und nicht wieder aus?

Die Erfahrung, die alle auf dieser Versammlung teilen, ist, dass neue Aktive in der Soziokultur meist über das ehrenamtliche Engagement reinkommen. Dann gibt es auch mal eine Übungsleiter*innenpauschale für ein Projekt. Und manchmal führt der Weg zu einer festen Stelle. Viele verschwinden aber auch wieder, weil sie sich beruflich anders entwickeln, Geld verdienen wollen.

Beim Generationenwechsel spielt beides eine Rolle. Die Übergabe an die junge Generation muss zwangsläufig auch die Übergabe an migrantischer geprägte Leute beinhalten, sonst würde man die gesellschaftliche Realität ignorieren. Und dabei ist es wichtig, „dass unsere Jobs besser bezahlt werden, sodass junge Menschen auch interessierter an dieser Arbeit sind“, betont eine andere Teilnehmerin der Versammlung der Wünsche.

Alle einzubeziehen heißt auch, alle bezahlen zu können

Im Workshop von „Migrantpolitan“ fokussiert sich die Hamburger Künstlerin Nadine Jessen auf die Frage, wie Leute, die z. B. keine gesicherten Aufenthaltsrechte in Deutschland besitzen, überhaupt honoriert werden können. Was eine Teilnehmerin aus Recklinghausen am Ende mit dem Geständnis belohnt: „Ich hab so viel Offenheit in Bezug auf Finanzen und damit einhergehende Problemlagen noch nie erlebt.“

Denn wer Kunst und Soziokultur macht, muss mit jedem Menschen arbeiten können, egal ob legal oder illegal im Land, ob berufstätig oder von Sozialleistungen lebend. Das wäre ja noch schöner, wenn wir uns vom Staat eine Vorauswahl diktieren lassen würden, lautet Jessens Credo. Wie steht es dann aber mit der Bezahlung?

„Manchmal geht es ja auch darum, Teilnehmern zu zeigen, dass man mit Kunst mehr Geld verdienen kann als mit Dealen“, provoziert sie. Und wirbt dafür, Erfahrungswissen auszutauschen und Möglichkeiten zu nutzen, auch solche Menschen einzubeziehen, die normalerweise durchs Raster fallen würden. Sie unterstreicht, wie wichtig Ehrenamtspauschalen sind, damit Menschen nicht leer ausgehen, die an Kulturprojekten teilnehmen, aber kein Geld verdienen dürfen, weil sie vom Jobcenter leben. Noch wichtiger als das Geld sei häufig, dass ein nachweisbares ehrenamtliches Engagement auch einen Pluspunkt bei der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis darstellt.

Jeder Mensch besitze außerdem ein Recht auf Bildung. Stipendien für die künstlerische Zusammenarbeit seien dementsprechend ein Instrument, mit dem jedem und jeder einbezogen werden könne, unabhängig von einer Arbeitserlaubnis. Das in der Praxis durchzusetzen, koste manchmal viele Telefonate und Nerven, so Jessen. „Mittlerweile rede ich kaum noch mit Dramaturgen“, gesteht die Künstlerin, „mit Rechtsanwälten zu sprechen ist viel wichtiger.“

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Miltiadis Oulios

Miltiadis Oulios lebt in Düsseldorf und arbeitet  als freier Journalist, hauptsächlich fürs WDR-Radio. Er schreibt Bücher („Blackbox Abschiebung“, „Köln kosmopolitisch“) und realisiert partizipative Theaterprojekte („Warum musste Theo sterben? Der NSU, die Einwanderer und der Staat“, „Das lebendige Denkmal – 100 Jahre Novemberrevolution“, „ERNTE? HILFE!“). Außerdem organisiert er das „Griechische Festivalaki“ im zakk und macht Musik in der Band „Deep Ya Deep“.