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Wo kommst du her, Soziokultur? Wo willst du hin?

Von Kübra Gümüşay

In der Stadt Belfast in Irland, auf der Montgomery Street, über dem „Garrick Pub“, an der Hauswand. Dort steht eine Inschrift.

„A nation that keeps
one eye on the past
is wise.
A nation that keeps
two eyes on the past
is blind.“

Ich war Anfang 20, als ich vor dieser Wand stand und diese Inschrift zum ersten Mal las. Seither begleitet sie mich im Nachdenken über unsere Vergangenheit und Gegenwart. Im Nachdenken über die Balance, das Gleichgewicht, das wir viel zu oft in vielen politischen Belangen zu verloren haben scheinen.

Auf dem Zukunftskongress lauschte ich Christiane Busmanns Worten von der Schuhfabrik Ahlen. In einem Ausschnitt aus den Interviews, die eigens für den Zukunftskongress geführt wurden, sprach sie davon, dass die Soziokultur systemkritisch angefangen habe, dann systemrelevant und schließlich systemstabilisierend geworden sei. Für mich wurden diese Worte zu den zentralsten Worten des gesamten Kongresses. Denn um selbstbewusst, umsichtig und nachhaltig in die Zukunft schreiten zu können, braucht es ein Bewusstsein für die Vergangenheit, die bislang beschrittenen Wege und erklommenen Berge. Ein Bewusstsein für das, was ist und uns umgibt. Für die Umstände, Strukturen und Systeme.

Doch wie sieht der Austausch zwischen den Generationen in der Soziokultur aus? Auf diesem Kongress waren sie zumindest in einem Raum. Von FSJler*innen und Praktikant*innen bis hin zu Gründer*innen. Auf einem Zeitstrahl verteilten sie sich – von frisch in der Arbeit bis hin zu 30, 40 Jahren in der Soziokultur. Der Zeitstrahl endete kurz vor dem „Notausgang“ (der Rente), dort stand an diesem Tag aber niemand. Wahrscheinlich, weil keine der Anwesenden seit Jahrzehnten diese Arbeit für Geld macht, sondern weil Soziokultur zu den Themen und Leidenschaften ihres Lebens gehört. Weil die Erfahrenen noch immer involviert sind. Weil sie, so wie Busmann, sich noch immer fragen: Quo vadis? Wohin des Weges?

Sich selbst kritisch zu hinterfragen, gehört zur Soziokultur. Davon zeugen alle Gespräche, die ich an diesem Tag führen durfte. Das zeigt selbst die Moderation, die uns durch den Tag führte. „Es moderieren Profiteur*innen der Soziokultur“, stand auf einer Slide hinter ihnen. Die Menschen, die ich hier traf, scheuten sich nicht davor, sich einzubetten, ihre Funktion(n) und Rolle(n) zu hinterfragen, ihr Wirken zur Diskussion zu stellen. Lauter Elefanten im Raum, die normalerweise knallbunt in der Mitte stehen und unbenannt bleiben, wurden benannt, ins Scheinwerferlicht gezerrt.

Einen solchen Elefanten benannte Ulrike Wachsmund im Interview für die Versammlung der Wünsche in folgendem Wunsch: Sie sagte, dass sie am liebsten das Geld, was sie für die Soziokultur erhalten, an das Publikum verteilen wollen würde. Damit Menschen überhaupt die Zeit haben, Kultur zu erleben und zu genießen. Applaus und eifriges Nicken im Publikum. Denn: Wer in unserer Gesellschaft genießt denn noch das Privileg, souverän über seine eigene Zeit verfügen zu dürfen und sich Zeit für Muße, Kunst, Kultur, Spiel, Gemeinschaft & Miteinander nehmen zu können? So kritisiert die feministische Autorin Teresa Bücker (u. a. in ihrem Buch „Alle_Zeit“), dass Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft zu viel Zeit einnimmt. „Daraus folgt, dass wir zu wenig Zeit für soziale Beziehungen haben, zur Familie, zu Freunden oder in der Nachbarschaft. So können wir Gesellschaft auf Dauer nicht organisieren.

Wenn Soziokultur systemkritisch wirken soll, dann geht es nicht ohne einen kritischen Blick auf unser Wirtschaftssystem, auf Zeit, auf Geld, auf bezahlte und unbezahlte Arbeit. Ohne einen Blick auf Macht und Privilegien. Ohne eine Einbettung in das große Ganze.

In den 70er und 80er Jahren nahm die Soziokultur in Deutschland ihren Anfang. In dieser Zeit war auch Michael Leihfeld aktiv, besetzte damals gemeinsam mit anderen eine ehemalige Schuhfabrik in Ahlen und bewahrte sie so vor dem Abriss. Fünf Jahre hielten die Besetzer*innen durch bevor aus der ehemaligen Schuhfabrik das heutige Kulturzentrum wurde. „Schuhfabrik“, der Name, erinnert noch heute daran. Seit fast 40 Jahren begleitet er nun die Schuhfabrik, vom besetzten Haus zum Kulturzentrum, zur anerkannten Institution in der Stadt. Er erzählt von damals. Von der Aufbruchstimmung und der Inspiration: dem damaligen Schul- und Kulturdezernenten von Nürnberg, Hermann Glaser, der prominent ein „Bürgerrecht Kultur“ forderte und ein gleichnamiges Buch veröffentlichte.

„Hermann Glaser, der den Begriff maßgeblich eingeführt hat, forderte, jegliche Kultur solle Soziokultur sein. Allein daran wird der große programmatische Wert des Begriffes deutlich, der seit den 1970er-Jahren die sogenannte „Neue Kulturpolitik“ ganz wesentlich trägt, die von der Überzeugung ausgeht, dass Kulturpolitik Gesellschaftspolitik ist.

Im gegenwärtigen Sprachgebrauch beschreibt Soziokultur vor allem eine beteiligungsorientierte Kulturpraxis, die Elemente u.a. der Jugend-, Sozial-, Umwelt- und Bildungsarbeit einschließt. Im Vordergrund steht dabei die Aktivierung aller Bevölkerungsgruppen und sozialen Milieus, um kreative Potenziale der Lebensweltgestaltung freizusetzen und „Kultur für alle“ sowie „Kultur von allen“ (Hilmar Hoffmann) zu realisieren.“

Aus: Soziokultur und kulturelle Bildung Tobias J. Knoblich auf bpb.de

An diesem Tag habe ich gelernt, wie ein Netzwerk an Menschen wirkt, das nicht darauf abzielt, sich irgendwann auszuruhen auf dem Erfolg. Menschen, die dem Etabliertsein kritisch gegenüberstehen. Ein Netzwerk an Menschen, die sich stattdessen trauen laut zu fragen: Wie geht es anders? Wie geht es besser? Wer kommt noch nicht in unsere Zentren? Wer fehlt? Warum? Was hat es mit uns zu tun? Was mit gesamtgesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen? Wie können wir diese Aufbrechen? Wie können wir – statt des Establishments – ein Teil des Wandels sein?

„Kultur ohne Soziokultur ist sektoral, ist eine vom Wesentlichen entkernte Kultur“, schrieb Hermann Glaser einst in „Soziokultur und Kultur“. Soziokultur ist eine Notwendigkeit. Räume, die sich trauen, sich ins Wesentliche einzubetten.

In dem Workshop von Jay Jordan & Isabelle Fremeaux („Laboratory of Insurrectionary Imagination“) zum Thema „Regenerative Activism“ ging es um Burnout. Jay sagte: „Our revolutions are not sustainable because we burn out. Because there isn’t enough passing on. We are constantly relearning.“ Und Isabelle ergänzte: „But this is not an individual failure, but a collective failure.“

Umso beeindruckender war es auf dieser Konferenz, wie selbstverständlich unterschiedliche Generationen zusammenkommen und wie offen und transparent Konflikte angesprochen, Elefanten im Raum benannt werden. Wie voneinander gelernt werden kann. Denn wie Jay & Isabelle richtig den Finger in die Wunde legten: Das ist es, was uns in unserer Gesamtgesellschaft massiv fehlt. Ein fließender, zirkulärer Austausch zwischen den Generationen. Auf Augenhöhe. Über das, was war. Und das, was kommen könnte. Der Kongress thematisierte diesen Mangel und schuf einen Raum, um ihn zu stillen. Einer, der über den reinen Wissenstransfer hinausgeht.

Eine der Übungen an diesem Tag war eine Kissenschlacht zwischen den Generationen. Entgegen der Erwartungen des Vorbereitungsteams gab es allerdings keinerlei Hemmungen. So flogen die Kissen munter durch die Luft. Bis ein Kissen die Wünsche-Kugelvase aus Glas vom Podest stieß und zersplittern ließ. Fast wie inszeniert und symbolisch auf dieser „Versammlung der Wünsche“: Es braucht keine Kugelvasen. Kein Aufschieben von Wünschen. Denn Bedürfnisse, Sehnsüchte, Mängel und Missstände werden lange bevor sie zu einem Wunsch formuliert werden müssen, gesehen, erkannt und erfüllt, wenn sich Generationen nicht bekriegen, sondern zusammenarbeiten. Auf Augenhöhe. Mit einem weisen Blick auf die Vergangenheit – und die Zukunft. Mit dem Mut, sich einzubetten. Systemkritisch. Soziokultur, halt.

Spiel des Lebens

Einer der Fäden, die sich durch den gesamten Kongress ziehen, ist der spielerische, freudvolle, kreative, gestaltende, selbstwirksame Zugang zu Alltäglichem & zum Miteinander. So spricht die Dramaturgin und Theaterpädagogin Hannah Kowalski über ihre Arbeit im Hamburger Gängeviertel über die zentrale Funktion von Spiel in ihrer Arbeit mit Jugendlichen und Kindern, um neue, „lustvolle“ Formen der Entscheidungsfindung zu entwickeln. Die exakt gleichen Spiele nutzt sie jedoch auch mit Erwachsenen. „Ich behandle Kinder genau so, wie ich Erwachsene behandle, und Erwachsene so, wie ich Kinder behandle. Ich mache da keinen Unterschied.“ Menschen so ernst nehmen wie es nötig ist, so viel Spielraum geben wie möglich.

Ich frage mich, warum andere Konferenzen oft so vorhersehbar und unendlich langweilig sind. Gerade hier im Kontrast, umgeben von Menschen, die tagtäglich Kunst und Kultur in den Alltag hineintragen, sich um Inklusion, Zugänglichkeit bemühen, wird deutlich, welch Leistung es eigentlich ist, spannende, interessante, inspirierende Menschen zusammenzubringen und das Zusammentreffen dann trotzdem so uninspirierend, fade und öde zu gestalten. So viel an dieser Konferenz verdeutlicht, wie viel der Rest der Gesellschaft von Soziokultur lernen könnte.

So kommentiert die Staatsministerim Gonca Türkeli-Dehnert beeindruckt, dass und wie ein so großer Haufen Menschen in so kurzer Zeit so spielerisch und unangestrengt ein Manifest verabschieden konnte. „Woanders brauchen wir einen Tag für einen Absatz“, sagt sie lachend.

Wie wohl Parteitage aussähen, wenn sich die Teilnehmenden gemeinsam mit Glitzer bestäuben, zu Anfang eines Seminars umarmen und vor einem Workshop in die Augen schauen würden? Bei Diskussionen um Formulierungen in Kleingruppen auf dem Boden sitzen, über Bodenfelder hüpfen oder sich auf Meinungs-Strahlen verteilen würden? Zumindest nicht weniger produktiv (möglicherweise gar produktiver?). Aber mit Sicherheit menschlich nahbarer, verbindender. Sich selbst weniger ernst nehmend, das Ego aus dem Spiel nehmen, die Sache ins Spiel bringen?

In einer Überschrift des Manifests der Soziokultur in NRW steht: „Soziokultur ist das Leben in schöner.“ Soziokultur demonstriert dem Rest der Gesellschaft, wie unser Miteinander anders, lustiger, fröhlicher und schöner gestaltet werden könnte.

Lautes Geflüster

Wer am Morgen den Veranstaltungssaal betritt, hört ein Geflüster. Von Sibylle, Esther & Christopher. So laut, dass alle mithören können. Es geht um Frühstück, um die Teilnehmenden und die Begegnung mit uns, die Journos, die den Kongress begleiten werden. Es geht um Fehlerkultur und jede Menge Insider-Jokes. So betreten wir den Saal. Es fühlt sich falsch und richtig zugleich an. Flüstern tut man nicht vor Fremden. Aber wer ins Mikro flüstert, flüstert der*die überhaupt noch? Und darf man lautem Geflüster lauschen? Hier ist es gewollt, also tun wir’s. Und werden langsam leiser. Ein sanfter Einstieg.

Wie alles an diesem Tag: Alles wohl durchdacht. Und offen für Symbolik. Ich sitze hinter Esther und denke mir, so ist es auch im Internet. Wir sind fremden Menschen unangenehm nah, bekommen zu viel mit, sehen zu viel. Es ist als würden alle in lauter Mikrofone flüstern. Ein Schnappschuss unserer Gegenwart.

Vernähte Handys

Ich frage Deniz, was sie gefühlt hat, als ihr die Möglichkeit angeboten wurde, ihr Handy einzunähen. „Ich war erleichtert“, sagt sie lachend.

„1/3 der Handys werden vernäht“, vermutet Pia, die hinter der Nähmaschine sitzt. Gerade haben sich zwei Personen an ihre Handys geklammert, als sie erzählte, was Sinn und Zweck dieses Stands sei. Alle, die wollen, können hier am Morgen ihre Handys in schicke Stofftaschen aus alter Bettwäsche zum Schlafen legen und am Abend nach der Konferenz dann aufwecken, also das Täschchen aufschneiden. „Oder auch zwischendurch. Wenn du ganz dringend ran musst, kannst du herkommen. Keine Sorge, hier liegt eine Schere parat“, versichert sie. Dann, endlich, gibt eine Person ihr Handy ab. Es ist das Diensthandy. „Ja, das machen die meisten.“

So lässt sich gut einstimmen auf den Zukunftskongress. Diensthandys Schlafen legen. Und stattdessen mit Mitmenschen verbinden.

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Kübra Gümüşay

Kübra Gümüşay © DAAD Cambridge

Kübra Gümüşay ist Autorin des Bestsellers „Sprache & Sein“ sowie Initiatorin zahlreicher preisgekrönter Kampagnen und Vereine. Das Magazin Forbes zählte sie 2018 zu den Top 30 unter 30 in Europa. Als Senior Fellow der Mercator Stiftung befasst sie sich derzeit am Center for Research in Arts, Humanities and Social Sciences (CRASSH), University of Cambridge, sowie als Visiting Fellow am Jesus College, University of Cambridge, mit alternativen Zukünften und realen Utopien.